Editorial

In Vorbereitung auf die Ausstellung ging ich alle meine Zeichnungen und Notizen noch einmal durch. Dabei habe ich darüber nachgedacht, wie ich in den letzten beiden Jahren der Pandemie war und wie ich heute bin.

Ich verstehe den Wunsch, den viele Menschen geäußert haben, aber „Zurück zur Normalität“ kann nicht unser Ziel sein. Es ist nicht mehr wie früher. Und es ist auch nicht normal. Auch wenn die Pandemie uns nicht so sehr getroffen hat, so hat sie mindestens Menschen um uns herum getroffen. Viele haben Ängste und Depressionen entwickelt. Und ich glaube, dass uns die psychologischen Auswirkungen dieser Zeit noch eine Weile begleiten werden.

Obwohl ich während der Pandemie viel draußen war und mich mit Freunden getroffen habe, erinnere ich mich vor allem an das Gefühl, allein auf meiner Couch zu sitzen. Es ist sehr dominant. Da es nur wenige Ablenkungen gab, habe ich mich viel mit mir selbst beschäftigt, zum Beispiel mit einem Familienkonflikt und meiner queeren Identität.

Die Auswirkungen der Pandemie auf das Leben von anderen Menschen waren kaum sichtbar. Der Alltag spielte sich hinter verschlossenen Türen ab oder versteckte sich hinter ausgeschalteten Laptop-Kameras.

Durch meine Zeichnungen sehe ich, dass es mir schlechter ging, als ich mich damals selbst wahrgenommen habe. Ich habe erkannt, dass ich versucht habe, das Beste daraus zu machen, aber nur funktioniert habe. Was hätte ich anders machen sollen? Irgendwann hatte ich keine Kraft mehr und alles brach zusammen.

„Das Lebenszimmer“ kann uns in diese Zeit zurückversetzen und uns dazu anregen, offen darüber zu sprechen.

Diese Ausstellung zu machen, fühlt sich an, als ob sich der Kreis schließt und ich mit diesen alten Lebensthemen abschließen kann. Ich habe genug darüber nachgedacht, ich habe genug gezeichnet und jetzt kann etwas Neues entstehen. Ich bin sehr glücklich, dass ich ITI getroffen habe und diese Ausstellung mit ihm machen kann.

Wir sind auf andere Menschen angewiesen, das haben wir während der Pandemie gesehen. Wir wollen zusammen sein und eine Verbindung haben. Es ist inspirierend und macht Spaß, zusammen zu arbeiten. Die Arbeit mit ITI hat viel Energie freigesetzt und meine erste öffentliche Ausstellung ermöglicht. Ich freue mich darauf, mehr zu zeichnen und mich als Künstlerin weiterzuentwickeln.

Ich wünsche allen viel Spaß bei der Ausstellung und beim Lesen dieses Magazins!

Interview

Merry Ich spreche sehr gerne mit dir über die Gesellschaft und die Menschheit. Wie du weißt, bin ich manchmal etwas genervt, weil die Diskussion in eine pessimistische Richtung geht.

ITI Viele Menschen halten mich eher für einen Pessimisten als für einen Optimisten. Eigentlich fühle ich mich nicht so pessimistisch, wie ich es sein sollte, angesichts dessen, was in der Welt passiert. Ich sehe die Welt nicht ausschließlich negativ. Aber ja, ich reagiere in der Regel eher auf das Negative, weil die glückliche Seite schon erledigt ist.

Ich frage mich: Was hält dich in dieser Welt?

ITI Das frage ich mich auch jeden Tag. Ich weiß nicht, was mich motiviert. Ich glaube, ich lebe mein Leben Schritt für Schritt. Ich denke, das ist das Geheimnis. Ich denke nicht auf lange Sicht.

Merry In letzter Zeit ist mir bewusst geworden, dass die Zukunft eine Fantasie ist und die Vergangenheit nur aus Erinnerungen besteht. Als ich das erkannte, wurde mir viel bewusster, in der Gegenwart zu leben und Schritt für Schritt zu gehen.

ITI Wenn ich an die Zukunft denke, wird nur eine der unendlich vielen Möglichkeiten eintreten. Manchmal kann ich mit Intuition spüren, dass etwas passieren wird.

Hattest du das Gefühl, dass du nach Berlin kommen würdest?

ITI Ich wusste, dass sich bald etwas ändern würde und ich nicht in Bukarest bleiben würde. Alles, was ich brauchte, war die Trennung von meiner damaligen Partnerin. Innerhalb einer Woche ging ich nach Berlin. Von der ersten Sekunde an wusste ich, dass ich hier sein sollte.

Merry Ich hatte einen positiven Schock, als ich hierher kam. So wie ich aufwuchs, hatte ich keine Ahnung von alternativen Dingen, wie ich sie hier sehe. Als Teenager ging es mir sehr schlecht, und seit ich mich erholt habe, suche ich nach nach dem Fröhlichen.

ITI Ich suche immer die Stille. Selbst das Glück ist nicht ruhig.

Warum lebst du in der Hauptstadt? Die Stadt ist laut!

ITI Wenn ich genug Geld hätte, würde ich ein Haus in Brandenburg kaufen und dort leben. Manchmal bin ich bereit, alles stehen und liegen zu lassen und einfach nur ein einfaches Leben zu führen. Kein Instagram, nur Kühe und Hühner, super old school.

Merry Wenn ich in mein Smartphone schaue, fühle ich mich innerlich tot. Ich weiß nicht, warum so viele Menschen ständig auf der Suche nach der nächsten Funktion und dem nächsten Gerät sind. Technologie ist für uns Menschen nicht hilfreich. 

ITI Die Menschen spüren es, aber sie wissen nicht, was es ist. Wir nennen es Depression. Wohin gehen die Leute, um sich behandeln zu lassen? Man schickt sie aufs Land. Wir sind so sehr miteinander verbunden, aber eigentlich sind wir so weit voneinander entfernt. Wir haben zwar Internet, aber unsere Herzen sind so weit voneinander entfernt.

Du scheinst ziemlich gut zu wissen, wovon du sprichst und wer du bist?

ITI Nein. Ich habe große Kämpfe mit meiner Identität. Denn zuallererst ist meine Identität „Alien“. Deshalb nenne ich mich ITI, die phonetische Schreibweise von Spielbergs E.T. Den Namen habe ich sehr früh von Klassenkameraden bekommen. In Rumänien kannte mich jeder als ITI. Das war sehr stark. Als ich nach Berlin kam, war das eine Umstellung. Ich wollte nicht merkwürdig klingen. Auch wenn Berlin perfekt ist, um merkwürdig zu sein.

Merry Klingt, als hättest du dich schon sehr früh gekannt, aber einen Teil deiner Identität verloren, als du nach Berlin kamst.

ITI Durch bestimmte Dinge in meiner Kindheit und eine Menge Erfahrungen mit Erwachsenen bin ich super schnell reif geworden. Ich glaube, mit 14 habe ich schon gesehen, wie scheiße die Welt ist und wie dumm Erwachsene sind.

Hast du die Situation auf kreative Art und Weise bewältigt?

ITI Nein, die Kreativität begann sehr spät. Im Jahr 2012 begann ich, Aufkleber zu zeichnen. Als sie auf den Straßen von Bukarest auftauchten, war ich verrückt danach, sie zu sammeln. Sie warben für Musikalben, unabhängige Filmfestivals oder Theaterfestivals. Mir wurde klar, dass ich meine Ideen genauso einbringen kann wie diese Leute.

Merry Ich weiß, dass wir unterschiedliche Ansätze haben, wie wir unsere Kunst machen. Meine Kunst entsteht aus meinen Gefühlen heraus. Deine Kunst kommt aus den Gedanken heraus.

ITI Ja, auf jeden Fall. Es ist mehr kuratiert. Ich plane sie total.

Kannst du den Prozess vom ersten Moment bis zur Fertigstellung des Werks beschreiben?

ITI Normalerweise studiere ich Bilder. Ich schaue in Datenbanken und durchsuche Tausende von Bildern, bis ich etwas finde, bei dem es Klick macht. Von da an entsteht die ganze Idee in meinem Kopf. Auf diese Weise sind meine jüngsten Arbeiten entstanden, die man in der Ausstellung „Das Lebenszimmer“ sehen kann. Wie sieht es bei dir aus?

Merry Es ist ganz anderes. Meine Inspiration kommt von schlechten Gefühlen. Sie lassen Bilder in meinem Kopf entstehen. Ich zeichne einfach das Bild aus meinem Kopf auf das Papier. Wenn es draußen ist, ist auch das Gefühl draußen. Wenn man etwas produziert, fühlt sich die Situation weniger sinnlos an.

Zeichnest du für dich selbst oder für die Welt?

ITI Ich zeichne für die Welt, nicht für mich selbst. Ich schreibe nur meine Beobachtungen auf. Ich bin Autodidakt. Ich habe keine Kurse an der Kunsthochschule besucht. Ich weiß nicht, was ich tue. Aber ich habe ein natürliches Gefühl für Farben.

Merry Ich zeichne für mich selbst, aber ich möchte die Menschen mit meiner Kunst berühren. Deshalb möchte ich Ausstellungen machen. Kürzlich zeigte mir meine Großmutter frühe Zeichnungen, die ich gemacht habe. Nur Pferde, Häuser, Vögel und die Sonne. Ich war sehr enttäuscht, ich habe kein Talent entdeckt.

ITI Selbst jetzt sehe ich mich nicht als großes Talent. Talent ist nicht gleichbedeutend mit Können. Es bedeutet Gefühl und Kreativität. Wie Marcel Duchamp, der ein Pissoir auf den Kopf stellte und es „Der Brunnen“ nannte. 

Merry Erst heute habe ich mehr über Banksy gelesen, der die goldenen Regeln des Graffiti nicht akzeptiert hat. Er hat nicht wiederholt, was die anderen gemacht haben. Das gefällt mir. Wir haben unsere Helden und versuchen, wie sie zu sein. Und dann kommt jemand daher und macht es ganz anders. Das ist genial.

ITI Weißt du, warum das so ist? Weil das die Natur ist. In der Genetik passiert genau das Gleiche immer wieder. Es ist nur ein Gen, das den weißen Eisbären in einen Braunbären verwandelt.

Merry Das haut mich grade voll um! An neuen Orten passe ich mich den anderen immer erstmal an, um nicht anders zu sein. Aber nach einer Weile sage ich: Was soll’s, ich mache es auf meine Art. Ehrlich gesagt hat mir dein Vergleich eben das Selbstvertrauen gegeben, „anders zu sein“ als eine gute Sache zu betrachten.

ITI Das war immer eine gute Sache. Schau dir Hieronymus Bosch oder Van Gogh an.

Merry Aber wem von ihnen hat es gefallen?

ITI Keinem von ihnen! Anders zu sein, ein Genie oder begabt zu sein, bedeutet eine Menge Leid im Hintergrund. Es kommt von einer Menge Einsamkeit und Leid im Laufe des Lebens.

Wie war die Pandemie für dich, was das Allein sein angeht?

ITI Ich hatte Glück. Ich war nicht so sehr allein. Ich habe die Zeit mit meiner Beziehung, meinen Mitbewohnern und deren Partnern verbracht. Aber wenn man 24 Stunden am Tag / 7 Tage die Woche zusammen ist, ist das erdrückend. Ich konnte auch die Einsamkeit in der Welt spüren, wenn ich auf der Straße war. Berlin fühlte sich an wie Bukarest – langweilig, nichts passiert, keine interessanten Leute.

Merry Ich habe mich noch nie in meinem Leben so einsam gefühlt. Ich war gerade dabei, einen großen Familienkonflikt und den Tod meines Großvaters zu verarbeiten. Ich hatte keinen Partner oder Mitbewohner und nicht einmal meine Freunde umarmten mich. Ich war verzweifelt auf der Suche nach einer engen Verbindung. Und es klappte überhaupt nicht. Niemand wollte mich.

ITI Weil es so nicht funktioniert.

Merry Genau. Und ich wusste das. Ich sage anderen Leuten immer, dass man sich selbst zuerst mögen muss. Verbringe Zeit mit dir selbst. Und plötzlich war ich auf der anderen Seite.

Schätzt du es jetzt, Zeit mit anderen Menschen zu verbringen?

Merry Ich schätze jede Millisekunde, in der ich mit anderen Menschen zusammen bin. Vor der Pandemie dachte ich, ich sei sehr unabhängig und bräuchte niemanden um mich herum, um meine Freizeit zu genießen. Ich glaube, ich brauchte diese Zeit, um mich wirklich allein zu fühlen und die menschliche Nähe schätzen zu lernen. 

Kürzlich habe ich mir alle meine Zeichnungen angesehen und mich an einen Satz erinnert: „Ich muss aufhören, gegen die Einsamkeit anzukämpfen, ich muss sie akzeptieren und mögen“. Jetzt kann ich das Alleinsein wieder genießen. Ich brauche diese Zeit zum Schaffen.

ITI Es braucht Zeit und Geduld, etwas zu schaffen. Aber zwei Sekunden, um es anzuzünden. Das ist ein weiteres Motto von mir. Zerstörung ist immer schnell. Schöpfung ist immer geduldig.

Merry Ein Paradox, denn das ganze Universum ist voller geometrischer Muster. Es ist extrem geordnet. Du sagst, es ist so einfach, die Ordnung zu zerstören. Aber ist sie dann wirklich zerstört? Wenn man das ganze Bild betrachtet, scheint alles richtig zu sein, so wie es ist.

ITI Du beschreibst hier nicht die Menschen, sie sind nicht in Ordnung! Aber richtig, wo immer man hingeht, findet man dasselbe geometrische Muster, und das geht bis ins Unendliche.

Merry Genauso wie dieses Gespräch unendlich sein könnte. Ich möchte ein Ende finden, das nicht sehr plötzlich ist.

ITI Fuck the world.

Merry Nein, ich stimme nicht zu.

ITI Das ist das Ende.

Merry Um den Kreis zu schließen. Vom Anfang bis zum Ende. Lass es mich hier beenden. Vielen Dank für das Gespräch!

ITI Danke dir!

Bin ich noch queer?

Seit ich einen Freund habe, frage ich mich: bin ich noch queer? Ich empfinde mich seltsam von mir selbst entfremdet, wenn ich von uns als Paar spreche. Ich war doch eben noch Teil der LGBTQI*-Community. In einem bunt gemixten Freundeskreis mit schwulen, lesbischen und Trans-Leuten. Hing Dienstags bei der Mädchendisko in der Olfe ab, ging auf schwule Filmfestivals. Es ist, als würde mir die Beziehung mit einem heterosexuellen Mann meine queere Identität nehmen. Das hat einen inneren Konflikt in mir ausgelöst mich zu diesem Essay veranlasst.

Ich muss so 17 Jahre alt sein. Ein frostiger Abend, ich bin in eine dicke Jahre gehüllt. Meine graue Mütze tief ins Gesicht gezogen, um meinen Kopf mit den nassen langen Haaren warm zu halten. Ich komme grade aus der Schwimmhalle und bin mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Hause. Wie so oft muss ich an einer geschlossenen Schranke anhalten. Ich stehe ganz vorne und hinter mir höre ich, wie eine Mutter mit ihrem Kind redet. Als der Zug durchfährt und die Schranke sich öffnet, sagt die Mutter zu dem Kind „Lass den Jungen mal zuerst fahren.“ Den Jungen? Plötzlich durchströmt mich ein warmes Glücksgefühl. Eine richtige tiefe Freude. Sie hält mich für einen Jungen! Ich sehe mich nicht um, sondern fahre so schnell weg, wie ich kann. Ich will ihre Illusion aufrechterhalten. Ich will nicht als Mädchen erkannt werden.

So sehr mir diese Situation im Gedächtnis geblieben ist, eine große Bedeutung hatte ich ihr damals nicht geschenkt. Heute verstehe ich dieses Glücksgefühl. Es ist ein frühes Beispiel dafür, dass ich mich nicht nur weiblich, sondern auch männlich fühle.

Als Teenager bekomme ich richtig Probleme mit meinem Körper. Nicht unüblich, aber mein verzerrtes einengendes Körpergefühl verwächst sich in den 20ern nicht. Ich mache schmerzhafte Versuche, mich dem Schönheitsideal von Frauen anzupassen. Dazu kommen die Rollenerwartungen, denen ich nacheifere, um dazuzugehören. Am Ende spiele ich tatsächlich eine Rolle, bin aber total unglücklich, weil ich gar nicht weiß, wer ich wirklich bin.

Nicht die Geschlechter sind falsch, sondern die Vorstellungen, die an die Geschlechter herangetragen werden.

Mit Mitte 20 lerne ich meine erste Freundin kennen und ziehe kurz darauf nach Berlin – ein Befreiungsschlag. In der Hauptstadt erfahre ich schnell von der LGBTQI*-Community und werde ein Teil davon.

LGBTQI* ist ein Akronym für Lesbian, Gay, Bisexual, Queer, Intersexual. Das Sternchen gilt für alle, die sich nicht in den Buchstaben wiederfinden. Während die Buchstabenfolge für einige noch erweiterbar ist, fassen andere alle Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen unter dem Oberbegriff queer zusammen.

Hier entdecke ich, wie unterschiedlich Menschen sein und lieben können. Ich lerne, dass Geschlechterrollen konstruiert sind und dass wir nicht als Mädchen oder Junge geboren werden, sondern von Geburt an so erzogen werden.

Durch Reflexion in unzähligen Gesprächen kann ich mich von den Schönheitsidealen und Rollenvorstellungen von Frauen befreien. Dabei hilft mir auch die Auseinandersetzung mit dem Feminismus. Als erstes verändert sich mein Aussehen – so drastisch, dass ich mich auf alten Fotos nicht mehr wiedererkenne. Als hätte ich endlich die Erlaubnis bekommen, lege ich die stereotypen Merkmale ab, die mich als Frau verkleidet haben. Ich tausche lange Haare, Kleider und Stöckelschuhe gegen einen rasierten Kopf, eine Baseballmütze und lockere T-Shirts aus der Herrenabteilung. Ich bin von Menschen umgeben, die mich nicht in gesellschaftlich festgelegte Rollen stecken und mich mit Sprüchen wie „Typisch Frau“ oder „Das ist nichts für Frauen“ nerven. Ich kann so sein, wie ich bin.

Viele haben ähnliche Erfahrungen gemacht: für das, was sie sind – homo, trans oder queer – verurteilt zu werden. Das ist nicht nur ein persönliches Gefühl. Erst seit 1994 wurde der Paragraph 175 aus dem deutschen Strafgesetzbuch gestrichen, der Homosexualität von Männern unter Strafe stellte(1).

Trotzdem macht mir mein Körper weiterhin zu schaffen. Ich lerne, ihn zu akzeptieren, aber nicht, ihn zu lieben. Es bleibt etwas, das nicht stimmt. Das Fleisch, das mir meine weiblichen Rundungen verleiht, fühlt sich fremd und leblos an. Warum fühlt es sich so an?

Offenbarung meiner selbst durch die Kunst

Aufschluss darüber, wie dieses vage Gefühl tatsächlich aussieht – wie ich mich selbst sehe – eröffnet mir die Kunst. Seit ich mit den tagebuchartigen Zeichnungen angefangen habe, bringe ich mein Innerstes und Unbewusstes zum Ausdruck. Wenn ich zeichne, dann denke ich nicht vorher darüber nach. Ich mache keine Skizzen, sondern setze direkt mit einem schwarzen Fineliner an. Oft entsteht das Bild erst, nachdem ich die erste Linie gezogen habe. Die Bilder kommen tief aus meinem Inneren. Sie machen sichtbar, was ich bis dahin nicht in Worten ausdrücken kann.

In der LGBTQI*-Gemeinschaft treffe ich Trans-Personen, die klar sagen, dass sie im falschen Geschlecht geboren wurden. Trifft das auch auf mich zu? Die Zeichnungen von mir selbst zeigen, wie ich mich tatsächlich mit meinem Körper fühle. Ein androgyner Körper ohne Brüste, ein kleines Büschel Schamhaar zwischen den Beinen, das die Vulva verdeckt. Kurze Haare und ein weiches Gesicht. Nein, ich fühle mich nicht dem falschen Geschlecht zugehörig – ich fühle mich irgendwo dazwischen. Das ist es, was mein gezeichneter Körper mir zeigt.

Als ich auf den Begriff „nicht-binär“ stoße, hilft er mir, mich einzuordnen und mich weniger allein zu fühlen. Es gibt andere, denen es ähnlich geht. Inzwischen brauche ich den Begriff nicht mehr. Ich habe mich mit der Tatsache abgefunden, dass meine Geschlechtsidentität nicht-binär ist und dass mein Körper so ist, wie er ist. Ich versuche nicht, mich zu verbiegen oder anzupassen, um von meinem Umfeld als „richtig“ wahrgenommen zu werden. Ich habe mich in meinem Leben schon so oft für andere verbogen. Das ist die Mühe nicht wert.

Beziehung mit einem CIS-Mann?

Cis bedeutet, dass man in dem Geschlecht lebt, das einem bei der Geburt zugewiesen wurde.

Als es mit ITI ernst wird, fühle ich mich plötzlich in eine Schublade gesteckt, in die ich nicht gehöre. Abgestempelt als heterosexuell. Und damit auch all die heteronormativen Stereotypen, Verhaltensweisen und binären Rollenmuster, die in queeren Beziehungen keine Bedeutung hatten. Prinzessinnen in Rosa, Feuerwehrmänner in Blau. Röcke für Frauen und Krawatten für Männer. Der Mann führt, die Frau folgt.

Okay, wir haben die Feminismus- und Sexismus-Debatte hier sicherlich hinter uns gelassen. Trotzdem kann ich mich mit dem Wort „Frau“ nicht identifizieren. Anderen Menschen fällt es offenbar leichter, sich in ihr Geschlecht einzuordnen. Meine Schwester hat das neulich gut veranschaulicht. Sie sagt: „Ich stehe hier als Frau. Ich möchte mit meinen individuellen Eigenschaften und Bedürfnissen wahrgenommen werden. Ich möchte, dass meine Rechte als Frau respektiert werden.“ Das kann ich nachempfinden. Und doch sehe ich mich nicht an dieser Stelle stehen. Ich sehe einen Mann neben ihr stehen, der für seine Sichtweise als Mann eintritt. Und ich stehe dazwischen.

Was bedeutet queer?

Wer definiert also, was queer ist? Die akademischen Diskurse der Queer Studies an den Universitäten? Influencer auf Instagram? Serien auf Netflix? Oder die queere Szene in den Großstädten? Ist queer eine Geschlechtsidentität, ein Oberbegriff für alle Geschlechtsidentitäten oder ein politischer Kampfbegriff?

Das Wort queer bezeichnet im 16. Jahrhundert in der englischen Sprache etwas Merkwürdiges oder Abweichendes. Es wurde als Schimpfwort benutzt, um etwas auszudrücken, das dem deutschen pervers gleich kommt1. Ende des 19. Jahrhunderts wurde es zum ersten Mal als homosexuellen-feindliche Beschimpfung verwendet(2).

In den 80ern hat sich die LGBT-Community den Begriff angeeignet und ihn in etwas Positives verwandelt. Die abwertende Bedeutung von pervers hat queer verloren, doch die Verwendung des Begriffs läuft Gefahr, Menschengruppen ins solche aufzuteilen, die als queer wahrgenommen werden und solche, die nicht dazu gehören(3). 

Da ich diese Fragen oben jetzt nicht beantworten kann, möchte ich mir einen Moment Zeit nehmen, um für mich selbst zu beantworten, was queer für mich bedeutet. Für mich ist queer sein ein sehr individuelles Gefühl. Es ist das Gefühl einer Diskrepanz in Bezug auf Sexualität, Geschlecht und Rollenerwartungen gegenüber Menschen, die den normativen Erwartungen entsprechen. Das kann sich darin äußern, dass man sich irgendwie anders fühlt – im besten Fall besonders, im schlimmsten Fall pervers.

Es ist nicht auf ein Merkmal herunter zu brechen. Das macht es so schwer greifbar. Es bewegt sich im Spannungsverhältnis zwischen Sexualität, Geschlecht und Körper. Auf welcher Ebene sich das Queere äußert, ist unterschiedlich und fluide. Es wechselt. Wie sich das Queere äußert, ist unterschiedlich und fluide. Das Queere sehe ich als ein Spektrum. Die Ausprägungen passieren unterschiedlich stark, auf anderen Ebenen, zu anderen Lebenszeiten. Und diese Ausprägungen sind nicht punktuell, auch nicht starr, sondern fluide. Queer zu sein ist auch nicht unbedingt sichtbar. Es kann gefährlich sein, sich anders als die Norm zu verhalten. Deshalb kann eine Person queer sein, auch wenn sie es nur privat oder sogar heimlich auslebt. Oder sie kennt vielleicht nicht einmal den Begriff queer und verwendet ihn nicht für sich selbst.

Kann eine heterosexuelle CIS-Person queer sein? In meinen Augen ja, zum Beispiel wenn ein Mann wegen seiner bunt lackierten Fingernägel vom gesellschaftlichen Bild des heteronormativen Mannes abweicht. Die Queerness mag bei diesem einen Merkmal nicht besonders stark ausgeprägt sein, und doch bewegt sie sich im Spektrum. Entscheidend ist hier, dass es einen inneren Drang gibt, sich auf diese Weise auszudrücken. Das heißt, er trägt die Fingernägel nicht, weil er eine Wette verloren hat, sondern weil er sie schön findet und einem inneren Wunsch folgt, sich als Mensch auf diese Weise auszudrücken.

Queer sein ist also nichts, das man sich aussucht, anzieht und wieder ablegt wie einen Modetrend. Sondern etwas, das entfaltet und entwickelt werden muss. Glitzer im Gesicht macht noch niemanden queer. Als Mann ein Kleid anzuziehen, um damit Lacher auf sich zu ziehen, ebenso wenig. Ein innerer Wunsch, sich so entfalten zu müssen und ein Leidensdruck zu empfinden, wenn das nicht möglich ist, weil es verpönt oder verboten ist.

Meine Definition von queer

Meine Definition ist schließlich: Queer ist das Selbstempfinden, in unterschiedlich starken Ausprägungen, sowohl in Sexualität als auch Geschlecht und Körper von der gesellschaftlichen Norm abzuweichen. Man verspürt einen inneren Drang, sich dementsprechend entfalten zu können und als das, wer man dann ist, anerkannt zu werden.

Ich möchte das zutiefst Menschliche hinter der Queerness betonen: Der Wunsch, sich als der Mensch zu entfalten, der man ist, und als solcher anerkannt zu werden.

Ich fühle mich halb Frau, halb Mann. Die Leute denken, ich sei lesbisch. Aber im Moment finde ich nur Männer interessant und wenn ich mit ihnen zusammen bin, fühle ich mich schwul. Wie seltsam ist das bitte? Ich erwarte nicht, dass das jemand wirklich versteht. Ich verstehe es selbst immer noch nicht wirklich.

Die Gesellschaft queeren

Es sind die Begriffe, die wir verwenden, die Menschen als Mann, Frau, schwul oder hetero, queer oder heteronormativ bewerten und abgrenzen. Wir Menschen haben Begriffe erfunden, um die Welt zu unterteilen und ihre Komplexität leichter zu erfassen. Aber das trennt die Dinge. Es trennt uns von einander und von der Welt, in der wir leben. Trennt der Begriff queer also nicht mehr als er verbindet?

Das Konzept von queer braucht das Normative in der Gesellschaft. Wenn die Gesellschaft queer, also vom „Konzept Queer“ durchdrungen wäre und das Menschliche hinter dem Konzept – sich frei entfalten zu können – den größten Stellenwert bekäme, dann wäre das Konzept Queer nicht mehr nötig. Ich denke aber, dass diese Idee der völligen Auflösung utopisch und nicht zu Ende gedacht ist.

Queere Kunst

Ich halte die Geschichten in meinen Comics für utopisch. Denn hier ist das Queer-Sein Normalität und wird nicht einmal als etwas Anderes oder Besonderes bezeichnet. Ich bin daran interessiert, andere Lebensthemen anzusprechen, die jeden betreffen können. Ich schleuse queere Körper und Geschichten ein und konfrontiere Betrachter, die das nicht erwarten.

Das, was notwendigerweise laut und kämpferisch diskutiert wird – LGBTQI*s zu akzeptieren – ist in meinen Comics kein Thema. Selbst wenn queer von allen akzeptiert würde, die nicht queer sind, bedeutet das immer noch eine Unterteilung in queer und nicht queer. Weil Sprache etwas mit uns macht und diese Trennung auslöst, ist das ein Grund, warum ich in meinen Comics manchmal ohne Sprache arbeite.

Queer ist ein Spektrum

Als queere Person entwickelt man ein Gespür dafür, wer zur Szene gehört. Man erkennt sich unter Heterosexuellen. In letzter Zeit werde ich häufiger eines Besseren belehrt. Leute, bei denen mein Gaydar ganz aufgeregt anspringt, stellen sich als hetero heraus. Leute, bei denen mein Gaydar nur ganz verhalten reagiert, sind homo. Und das Gleiche passiert anderen mit mir. Hat sich hier etwas in der Gesellschaft verändert?

Queer wird gerade Teil unserer Sozialisation. Durch beliebte Serien wie „Sex Education“ auf Netflix, durch Feminismus und Eltern, die sich den Fragen bereits gestellt haben, wächst die Jugend mit neuen Vorstellungen von Sexualität, Geschlecht und Rollenerwartungen auf, verinnerlicht sie viel früher in ihrer Entwicklung. Das ist nicht überall selbstverständlich. Die Gegenreaktion auf die neue queere Offenheit ist groß. Und doch bin ich hoffnungsvoll, dass die Gesellschaft insgesamt offener wird und weniger unterscheidet in binäre Geschlechter und Rollenmuster.

Aus meiner Sicht ist es nicht förderlich, eine dauerhafte Grenze zu ziehen und die Unterscheidung zwischen queer und nicht-queer zu treffen. Ich plädiere daher dafür, queer als ein Spektrum zu beschreiben, auf dem sich Menschen mal mehr, mal weniger bewegen. Die Frage lässt sich nicht mit Ja oder Nein beantworten. Stattdessen können wir fragen, wie etwas in einer queeren Welt getan oder gedacht wird.

Abschließend möchte ich die Frage „Bin ich noch queer?“, die ich in diesem Aufsatz behandelt habe, neu formulieren: „Inwieweit ist mein Denken, Fühlen und Verhalten queer?“

Denn darauf gibt es keine binäre Antwort: kein richtig oder falsch, kein ja oder nein. Ich kann mit fester Überzeugung sagen – mein Denken, Fühlen und Verhalten liegt auf dem queeren Spektrum. Ich habe keine Angst mehr, meine queere Identität wegen desjenigen zu verlieren, den ich liebe. Denn unabhängig von meinem Beziehungsstatus war und bin ich ein queerer Mensch. ITI nimmt mir das nicht weg. Ganz im Gegenteil. Wie in „Sex Education“, als die nicht-binäre Cal ihren Freund fragt, ob er für eine queere Beziehung bereit ist, kann ich auch fragen: Wie queer mache ich unsere Beziehung?

(1) https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/180263/1994-homosexualitaet-nicht-mehr-strafbar/

(2) vgl. Queer, 2018, S. 11

(3) vgl. Queer, S. 13